Schopenhauer und Nietzsche.


Zwei Arten Mystik: Die Verneinung und die Bejahung der Welt.

Schopenhauer und Nietzsche gehören zu einer Spezies von Philosophen, wie sie heute kaum noch vorkommen. Sie sind Monstren einer Begeisterung, die sich das einemal als 'Nein' zur Welt, das anderemal als 'Ja' ausspricht. Die Frage ist, ob etwas so Totales wie die 'Welt' sich überhaupt sinnvoll bejahen oder verneinen läßt, denn die Welt ist kein 'Gegenstand'; sie ist etwas, worin man enthalten bleibt, auch noch in der Verneinung. Sinnvoll Bejahen oder Verneinen kann man einzelnes, nicht aber das Ganze, zu dem man gehört. Es sei denn, man entschließt sich zum Selbstmord, weshalb auch Camus den Selbstmord als das einzig ernst zu nehmende Problem der Philosophie bezeichnet hat. Nun hat Schopenhauer nicht Selbstmord begangen, obwohl er doch 'die Welt' verneinte; und Nietzsche hat oft genug an Selbstmord gedacht, obwohl er doch die Welt emphatisch bejahte. Welchen Sinn haben also diese großen, pathetischen Gebärden der Verneinung oder Bejahung ?

Es waren keine Gedankenexperimente und Gedankenresultate. Es ist über sie gekommen, wie eine Versuchung oder eine Erleuchtung. Für beide ist es die Erfahrung einer Intensität, die man nicht selbst 'macht', sondern die einem widerfährt. Erst nachdem es ihnen widerfahren ist, haben sie etwas daraus gemacht: ihre Philosophie, die deshalb zurückgeht auf einige Evidenzen im Augenblick, die mit der Gewalt mystischer Erleuchtung gewirkt haben. Ihre Philosophie ist eine Art Nachbeben solcher Einschläge.

Das ist aber überhaupt so bei der großen Philosophie. Es gibt dort stets eine Art Erleuchtung, Evidenzen im Augenblick. Nüchtern gesprochen: einen generativen Kern, aus dem alles hervorwächst. Manchmal bleibt dieser Kern das esoterische Geheimnis des Philosophen. Von Platon z.B. vermuten wir, daß er eine öffentliche und eine geheime Philosophie gelehrt hat. Bei einer Gelegenheit, berichtet Aristoteles, habe Platon seine esoterische Philosophie öffentlich vorgetragen. "Als nun aber, so Aristoteles, " zum Vorschein kam letzten Endes der Satz, Gut sei Eins, da erschien ihnen dies als etwas gänzlich Unerwartetes und Sonderbares, und so dachten die einen geringschätzig über die Sache, die andern lehnten sie offen ab." Das Esoterische enttäuscht. Zum Vorschein kommt ein einfacher Satz, "Gut sei Eins", der geradezu trivial wirken kann. Und doch muß er für Platon alles andere als trivial gewesen sein, weshalb die esoterische Geheimniskrämerei wohl die Funktion hatte, den direkten Weg zum Einfachen zu versperren, weil andernfalls das Einfache offenbar notwendig zum Trivialen wird.

Ein anderes Beispiel. Ludwig Wittgenstein beendet seinen Tractatus logico-philosophicus mit den berühmten Sätzen: "Es gibt allerdings Unaussprechliches ... Dies zeigt sich, es ist das Mystische ... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Über dieses "Verschwiegene" berichtet Wittgenstein in einem Brief, der von einem mystischen Erlebnis erzählt. Es widerfuhr ihm bei einem Theaterstück von Anzengruber. Dort spricht ein Bauer den Satz: " Du g'hörst zu dem all'n, und dös all g'hört zu dir. Es kann der nix g'schehn !" Auch so ein Satz von großer Einfachheit, von bedenklicher Nähe zum Trivialen. Deshalb wurde Wittgenstein zum Sprachphilosophen, der herausbekommen wollte, wie weit man mit der Sprache gehen kann und worüber man besser schweigt.

Wenn Platon erklärt: "das Gute ist Eins"; und Wittgenstein: "Du g'hörst zu dem allen" - dann formulieren sie die Evidenz eines Augenblicks und zugleich den generativen Kern ihres Denkens.

An solchen Evidenzerlebnissen lassen sich einige Merkmale aufweisen. Sie sind, erstens, ereignisartig. Es kommt über einen, eine Erleuchtung, die man sich nicht erwirbt, sondern erfährt.

Sie zerschneiden, zweitens, das Leben in ein Vorher und Nachher. Von diesem Augenblick an sieht alles anders aus und spricht einen anders an. Es ändert sich das Leben.

Sie enthalten, drittens, einen Überschuß, den man kaum in Sprache umsetzen kann - oder nur unter erheblichen Evidenzverlusten.

Weil es verschiedene Evidenzerlebnisse gibt, gibt es auch verschiedene Philosophien. Ich vermute, daß in der Geschichte der Philosophie nur das Bestand hat, was sich einem solchen Evidenzerlebnis verdankt. Die Evidenzerlebnisse sind das individuelle Universelle, d.h. sie gehören zu Leib und Leben des Einzelnen. Sie sind Singularitäten. Weshalb es auch keinen Fortschritt in der Philosophie gibt, sondern nur die Mannigfaltigkeit von Perspektiven, die einleuchtend sein können. Doch nur das, was sich der Kraft einer Erleuchtung verdankt, kann auch anderen einleuchten. Die Mannigfaltigkeit der Evidenzerlebnisse bedeutet nicht, daß sich alles relativiert und beliebig wird. Was auf eine Evidenz zurückgeht gilt, vorausgesetzt allerdings, es gibt in mir etwas, das mich anspricht und in jenen Geltungsbereich zieht.

Auch Schopenhauer hat, um mit ihm zu beginnen, seine Evidenzerlebnisse, philosophische Urszenen, aus denen die Motive seiner Philosophie der Verneinung entspringen.

In seinem Tagebuch notierte der junge Schopenhauer: Tief im Menschen liegt das Vertrauen, daß etwas außer ihm sich seiner bewußt ist wie er selbst; das Gegenteil lebhaft vorgestellt, neben der Unermeßlichkeit, ist ein schrecklicher Gedanke.

Gerade weil Schopenhauer sich das Gegenteil so lebhaft vorstellen konnte, wurden ihm die Spielregeln des Urvertrauens sinnfällig: ein Wesen, das sich in die monströse Einsamkeit hinausdenken kann, verlangt nach dem Gefühl, bedacht zu sein. Die Formel des Weltvertrauens lautet: 'cogitor ergo sum', (ich werde bedacht, also bin ich). Die Lehre Schopenhauers aber lautet: Wir werden lernen müssen, ohne Weltvertrauen zu leben, wir sind alleine, es gibt keinen übergreifenden Sinn. Schopenhauers Welt ist eine, der man den Kredit entzogen hat.

Schopenhauer erzählt, wie er als Kind nachts plötzlich aufgewacht sei und die Eltern waren außer Haus bei irgendeiner Gesellschaft, und wie er sich in diesem Augenblick für immer verlassen wähnte. In einem Jugendgedicht erinnert er sich: Mitten in einer stürmischen Nacht, / Bin ich mit großen Aengsten erwacht, / . . . kein Schimmer, kein schwächster Strahl / Konnte die tiefe Nacht durchreichen. / Als könnte vor keiner Sonne sie weichen, / Fest und undurchdringlich sie lag, / Daß ich glaubt', es käme nimmer kein Tag: / Da that große Angst mich fassen.

Jetzt müßte man eigentlich - was in diesem Zusammenhang nicht möglich ist - ausführlich von persönlichen Prägungen und Erfahrungen Schopenhauers sprechen. Denn Weltvertrauen verliert man nicht nur durch eine anonyme Bewegung des Denkens, sondern zunächst einmal durch ein Erleben. Jedenfalls gibt es das schon beim jungen Schopenhauer, ein Absence sonderbarer Art, die ihn staunen und zugleich sich erschrecken läßt vor dem Willen zum Leben, von dem wir nicht loskommen, weil wir ganz aus seinem Stoff gemacht sind. Wenn man erstaunt, so muß man doch nicht erschrecken. Wenn Arthur erschrickt, dann deshalb, weil schon sehr früh eine Gestimmtheit in ihm ist, die ihm nicht erlaubt, Leben als Wärme zu empfinden. Er erlebt einen Kältestrom, der durch ihn hindurchgeht und auf dem er treibt. Das Nächste - die Wirklichkeit des eigenen Leibes - ist ihm zugleich das Fremde, so fremd, daß für ihn der im Leib verkörperte Wille zu dem philosophischen Geheimnis schlechthin wird. Der verkörperte Wille ist ihm das pochenden Herz eines dunklen Universums. Schopenhauer ist mit seinem Leibe uneins. Seine erotische Karriere beispielsweise beginnt mit einer Verdammung der Wollust. Als Jüngling, bei Gelegenheit einer mißratenen Liebesgeschichte, dichtet er: 0 Wollust, o Hölle / 0 Sinne, o Liebe, / Nicht zu befried'gen / Und nicht zu besiegen ! / Aus Höhen des Himmels / Hast du mich gezogen / Und hin mich geworfen / In Staub dieser Erde: / Da lieg' ich in Fesseln. Im Tagebuch notiert Arthur kurze Zeit später: Den Anfechtungen deiner Sinnlichkeit siehe lachend so zu wie der Ausführung eines gegen dich verabredeten dir aber gesteckten Schelmenstreichs.

Die Sexualität wird als Gefangenschaft erlebt, kein Wunder, daß Arthur sich nach einer leibfreien Souveränität sehnt. Außerdem macht ihn die Erfahrung der inneren Gefangenschaft empfänglich für die Eindrücke von Gefangenschaften dort draußen in der Welt. Dafür gibt es eine Urszene. Am 8.April 1804 besucht der 16jährige Arthur bei einer Europareise mit den Eltern das berüchtigte Arsenal von Toulon, wo die Galeerenhäftlinge vegetieren. Arthur im Reisetagebuch über seine Eindrücke: Läßt sich eine schrecklichere Empfindung denken, wie die eines solchen Unglücklichen, während er an die Bank in der finsteren Galeere geschmiedet wird, von der ihn nichts wie der Tod trennen kann ! - Manchen wird sein Leiden wohl durch die unzertrennliche Gesellschaft dessen erschwert, der mit ihm an eine Kette geschmiedet ist.

Das Arsenal in Toulon läßt in Arthur einen Vorrat greller Bilder zurück, auf den er später zurückgreifen wird, wenn er in seiner Metaphysik des Willens die Fesselung der Vernunft und der individuellen Existenz an den anonymen Lebenswillen erläutert: wir sind alle Galeerensklaven des Willens, der durch uns hindurchgeht. Wir sind festgeschmiedet an den blinden Drang zur Selbstbehauptung und die Kette verbindet uns zugleich mit dem Mitmenschen. Jede Bewegung, die einer vollführt, fügt dem anderen Schmerzen zu.

Wie aber kommt man los von dieser inneren und äußeren Gefangenschaft ? Eine andere Urszene gibt darauf die Antwort. Der junge Arthur hat für sein Leben gern Berge bestiegen. Zum ersten Mal bei der Europareise. Der 16jährige schreibt im Reisetagebuch nach der Besteigung des Pilatus: Mir schwindelte, als ich den ersten Blick auf den gefüllten Raum warf ... Alle kleinen Gegenstände verschwinden, nur das Große behält seine Gestalt bei. Alles verläuft ineinander; man sieht nicht eine Menge kleiner, abgesonderter Gegenstände, sondern ein großes, buntes, glänzendes Bild, auf dem das Auge mit Wohlgefallen weilt.

Das Kleine verschwindet - man gehört nicht mehr dazu. Und wer dem Gewimmel entrückt ist und das Große erblickt, der ist auch groß. Auf der Bergeshöhe verwandelt man sich ganz in ein Auge - in ein Weltauge wird Schopenhauer später sagen. Das Bergerlebnis gibt einen Vorgeschmack auf das Schopenhauersche Glück der Philosophie: wenn vom Sein nur noch das Sehen übrigbleibt.

Der junge Schopenhauer ist, ohne die Gnosis zu kennen, auf dem besten Weg, ein Gnostiker zu werden. Er empfindet die Welt als fremd und dunkel, und sich selbst als Fremdling darin. Und es gibt pneumatische Augenblicke des Entronnenseins, das erhabene Bergerlebnis. Innerweltliche Ekstasen, bei denen einem bewußt wird, daß man noch ein anderes Heimatrecht besitzt. Später hat Schopenhauer sehr wohl seine Nähe zur gnostischen Welterfahrung bemerkt, auch seine Nähe zur buddhistischen Weltverneinung, die ja in die Gnosis hineinwirkt, blieb ihm nicht verborgen. Als alter Mann schreibt er: in meinem 17ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwandt bald die auch mir eingeprägten Jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden.

Das Bergerlebnis als Erleuchtung. Schopenhauer bleibt auf der Suche nach solchen Augenblicken. Sein philosophisches Werk lebt von diesen Augenblicken und der Suche danach.

Im philosophischen Tagebuch nennt er seine pneumatischen Augenblicke: das bessre Bewußtsein. Er grenzt es ab vom empirischen Bewußtsein und dem mit ihm verbundenen realitätstüchtigen Verhalten. Ich aber sage, so lautet eine Eintragung von 1813, in dieser Zeitlichen, Sinnlichen, Verständlichen Welt giebt es wohl Persönlichkeit und Kausalität, ja sie sind sogar nothwendig. - Aber das bessre Bewußtseyn in mir erhebt mich in eine Welt wo es weder Persönlichkeit noch Kausalität noch Subjekt und Objekt mehr giebt. Unter dem Namen des bessren Bewußtseins verbucht Schopenhauer seine ekstatischen Erfahrungen. Das bessre Bewußtsein ist eine Art der Wachheit, die in sich ruht, nichts will, nicht befürchtet, nichts hofft. Der schwere Lauf der Welt und der Stand der Dinge erscheinen aus dieser Perspektive als Spiel.

Schopenhauer spricht von einem Bewußtsein jenseits von Raum und Zeit - auch wieder ein paradoxer Ausdruck, den die Sprache uns aufzwingt. Wenn ich in einem Augenblick ganz in die Aufmerksamkeit versunken bin, dann ist tatsächlich die Trennung von Ich und Welt plötzlich aufgehoben. Diese Aufmerksamkeit ist raum-zeit- und selbstvergessen. Die Mystiker haben dafür den Ausdruck "Nunc stans", stehendes Jetzt. Zweifellos ist das bessre Bewußtsein auch eine Art der Ekstase, eine Ekstase der Klarheit, man könnte sagen: eine Euphorie des Auges. Diese Ekstase befindet sich genau am entgegengesetzten Pol zu jener anderen, für die von jeher der Name Dionysos steht: sich in die Flut des Begehrens stürzen, vom Körper mitgerissen, Selbstauflösung in der Sinnlichkeit. Hier wird der Körper nicht verlassen, sondern zum Weltkörper gesteigert. Auch hier verschwindet ein Ich, indem es sich den nicht ichhaften Mächten des Triebes preisgibt. Dionysos - er ist der taumelnde Gott einer Metaphysik des Leibes. Metaphysik ist das sehr wohl, denn es geht um jenes atemberaubende Jenseits, in das uns die Genüsse des Körpers befördern. Das Ich ist hier nur störend, es ist für den Interruptus zuständig, deshalb muß es verschwinden; bleibt es doch, so kann Dionysos, dieser 'kommende Gott' nicht kommen. Doch Schopenhauer hält es, anders als Nietzsche, nicht mit Dionysos. Aber versuch' es einmal, schreibt er im Tagebuch, ganz Natur zu sein: es ist entsetzlich zu denken: du kannst nicht Geistesruhe haben wenn du nicht entschlossen bist nötigenfalls dich und d. h. alle Natur für dich zu zerstören.

Man darf jetzt aber nicht denken, Arthur Schopenhauer hielte es mit Apoll, dem offiziellen Gegenspieler des Dionysos. Apoll steht für die geprägte Form, für die runde Individualität, die das entgrenzende NichtIch des Triebes staut und in eine Gestalt bringt. Arthur Schopenhauers Stil wird zwar mit seinem ruhigen, gemessenen Schreiten, in seiner Plastizität und Klarheit apollinisch sein; doch die Inspirationen des bessren Bewußtseins sind auch grenzüberschreitend, ichauflösend; nicht apollinisch also, sondern, um einen Ausdruck Hölderlins zu gebrauchen, "heilignüchtern". Eine helle Ekstase. Nicht als Realist, sondern aus der Perspektive seines bessren Bewußtseins schleudert Schopenhauer seine antidionysischen Blitze, Invektiven gegen die Verlockungen des Körpers, die um so bitterer sind, je illusionsloser die Macht des Körpers erfahren wird.

Arthur Schopenhauer, zu unbescheiden, zu intensitätshungrig, um sich mit seinem empirischen Ich zu begnügen, läßt sich auf die Grenzüberschreitung ins Über-Individuelle, in die helle Ekstase des bessren Bewußtsein ein und wehrt sich gegen die Grenzüberschreitung ins Unter-Individuelle, gegen die Ekstasen des Dionysos. Diesen Untergrund des Willens wird er sehen, aber er wird ihn nicht leben wollen. Er wird ihn so gut sehen, daß er ihn sogar zur einzigen Substanz - zum Weltwillen - machen wird. Alles ist ihm Fleisch vom Fleische des Willens. Der Wille ist so sehr 'alles', daß er nur noch vom 'Nichts' her - also vom bessren Bewußtsein, das darauf einstimmt - ausbalanciert werden kann. Der Ausdruck bessres Bewußtsein verschwindet aus den Aufzeichnungen, als Schopenhauer die Schlüsselbegriffe seiner Metaphysik des Willens findet. Natürlich verschwindet nur der Ausdruck, nicht aber das, was er bezeichnet hat. Er hatte zwei noch ungeschiedene Aspekte einer Bewußtseinsstellung bezeichnet: zum einen das weltabständige Staunen, wodurch das Selbstverständliche überhaupt erst fragwürdig wird. Dieses Staunen steht am Beginn der Schopenhauerschen Metaphysik. Zum anderen bezeichnete der Ausdruck jenes Transzendieren ohne Gott, jene Ekstase, die Schopenhauers Metaphysik des Willens dann die Verneinung des Willens nennt. So bleibt das bessre Bewußtsein, das Staunen und Verneinung umfaßt, im Hauptwerk präsent - inkognito, aber von Anfang bis Ende.

Sie kennen sicherlich die Stationen der Verneinung bei Schopenhauer. Die kleine Verneinung in der Entspannung der Kunst, im gelassenen Erlebnis der Schönheit, und dann die unio mystica des Mitleids, worin die Dynamik der egoistischen Selbstbehauptung des Willens gebrochen wird. Von dieser Mitleidphilosophie leitet Schopenhauer über zur Philosophie der Verneinung - jedenfalls ist das der Weg der Argumentation.

Wer diese Unio mystica des Mitleidens erlebt, dem kann es auch geschehen, daß sich sein Wille wendet, ihn schaudert vor den Genüssen des Lebens. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit.

Wir geraten hier in eine sehr dunkle Dimension des Schopenhauerschen Philosophierens. Dunkel ist nicht nur das Thema selbst - die Verneinung -, dunkel und auch widersprüchlich ist die begriffliche Formung der zugrundeliegenden Erfahrung. Eine Schwierigkeit ergibt sich schon aus der Schopenhauerschen Willensmetaphysik selbst. Denn deren radikale Immanenz verbietet jedes transzendente Eingreifen höherer Mächte. Die Verneinung des Willens kann also nicht die Wirkung einer höheren Macht im Sinne einer den Willen dominierenden Erkenntnis sein. So aber drückt sich Schopenhauer bisweilen aus, wenn er schreibt: der Wille wird gebrochen. Wenn der Wille alles ist, wenn er die primäre Macht des Wirklichen ist, wer oder was sollte ihn dann brechen können ? Wenn Schopenhauer also im Rahmen seiner Metaphysik des Willens bleiben will, dann wird er die Verneinung des Willens als ein Geschehen des Willens selbst begreifen müssen. Nicht also als ein Geschehen auf der Ebene des Bewußtseins, sondern des Seins. Die Verneinung des Willens ist kein Akt, sondern das Ereignis der Selbstaufhebung des Willens, kein Beenden, sondern ein Aufhören. Was wir nicht selbstinächtig zustande bringen, nennt der christliche Glaube "Gnade". Das Schopenhauersche Verneinung des Willens ist auch eine Art Gnade.

Auf der Paßhöhe seiner Philosophie erreicht Schopenhauer die Grenze rationalen Argumentierens. Er muß sich damit begnügen, auf jene Heroen der Meeresstille, wie Buddha, Jesus oder Franz von Assisi hinzuweisen, welche die Welt überwanden. Aber in einer wunderbaren Passage versucht er einmal die Welt so zu beschreiben, wie sie dem Entrückten vorkommen könnte und wie sie sich auch seinem eigenen bessren Bewußtsein zeigt: Er blickt nun ruhig und lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüt zu bewegen und zu peinigen vermochten, die aber jetzt so gleichgültig vor ihm stehen wie die Schachfiguren nach geendigtem Spiel oder wie am Morgen die abgeworfenen Maskenkleider, deren Gestalt uns in der Faschingsnacht neckten und beunruhigten. Das Leben und seine Gestalten schweben noch vor ihm wie eine flüchtige Erscheinung, wie dem Halberwachten ein leichter Morgentraum, durch den schon die Wirklichkeit durchschimmert, und der nicht mehr täuschen kann.

Aber lassen wir uns nicht täuschen: Wenn der Wille in der Verneinung erstirbt, so bleibt doch nicht Nichts übrig. Da gibt es ein Erwachen. Die Welt des Willens ist vielleicht doch nicht alles. Schopenhauer hat später, im Blick auf seine eigene Philosophie festgestellt, daß bei mir die Welt nicht die ganze Möglichkeit alles Seins ausfüllt. Das Sein ist umfassender als die Welt des Willens: das ist eine überraschende Aussage Schopenhauers, denn sie bedeutet, daß die Verneinung nicht auf ein ersterbendes Nichtsein hinausläuft, sondern auf ein anderes Sein.

Jede große Philosophie hat ihr Unsagbares, ihr unformulierbares Mysterium. Bei Schopenhauer scheint es mir hier in diesern Satz angedeutet: daß bei mir die Welt nicht die ganze Möglichkeit alles Seins ausfüllt.

Es ist wohl doch so: die Verneinung des Willens zum Leben trifft nicht das Leben überhaupt, sondern' diesen Dschungelkampf des Lebens. Jedoch erlebt Schopenhauer das Dschungelgesetz des Lebens so total, so sehr von seiner Naturbasis und nicht nur der eher disponiblen Gesellschaftsbasis her, daß die punktuelle Freiheit von diesem Gesetz - das Aufhören - für ihn zu einem letztlich unbegreifliches Mysterium wird und auch als solches erlebt wird: als bessres Bewussein. Was hier geschieht, läßt sich auch so formulieren: die Logik des Lebenskampfes ist total. Wenn sie doch einmal zerreißt - dann ist das ein Mysterium. Die Welt des Überlebenwollens ist die Hölle; nur das, was nicht um alles in der Welt überleben will, hat die Chance zur wirklichen Lebendigkeit. Solches Leben aber muß aus der Lebenskampfperspektive als nichtig erscheinen.

In Schopenhauers Philosophie drängt alles auf ein gewandeltes Leben. Die große Wandlung wäre die heilige Erleuchtung. Auf sie kann Schopenhauer nur hinweisen. Er selbst bringt es 'nur' bis zur Philosophie oder zur Kunst, das gesteht er sich ein. Philosophie und Kunst liegt auf dem halben Weg. Eine befristete Heiligkeit, ein Vorgeschmack, prosaisch gesprochen: ästhetischer oder kontemplativer Weltabstand.

Wollte man Schopenhauers Philosophie insgesamt charakterisieren, müßte man sie als eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens bezeichnen, wobei 'ästhetisch' heißt: auf die Welt hinblicken und dabei schlechterdings nicht tätig darin verflochten sein. Dieses ästhetische Abstandnehmen eröffnet einen Ort der Transzendenz, der leer bleiben muß. Kein Wollen, kein Sollen, nur noch ein Sein, das ganz zurn Sehen geworden ist, zum Weltauge. Solches gelassene Sehen ist jene Art der Verneinung, welche die Philosophie als Akt selbst noch vollziehen kann, mehr kann sie nicht. Aber wenn sie so weit kommt, dann wird das auch die Wirkung haben können, die Schopenhauer der beseligenden Kunst zuschreibt: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willendrangs entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.

Es ist zu Genüge bekannt, wie Nietzsche sich von Schopenhauer hat inspirieren lassen, wie die erste Lektüre der "Welt als Wille und Vorstellung" geradezu als Bekehrungserlebnis gewirkt hat. Später entfernte er sich von ihm, aber blieb ihm antithetisch verbunden: der Schopenhauerschen Entsagung setzt er den Willen zur Macht entgegen.

Nietzsches Bejahung des Lebenswillens richtet sich oberflächlich gesehen gegen Schopenhauer. Aber Nietzsche hat der Schopenhauerschen Verneinung auf den Grund gesehen und dort jenes Verlangen nach einem anderen Sein entdeckt, wovon schon die Rede war. Verschafft sich Schopenhauer, so fragt Nietzsche, nicht mit seiner ganzen Verneinungsphilosophie die die besten Bedingungen für die "schönste Fruchtbarkeit" , bedeutet die Askese nicht eine Intensivierung und raffinierte Ausgestaltung des Lebenswillens? Nietzsche entdeckt das uneingestandene 'Ja' in Schopenhauers 'Nein'. Und zwar deshalb, weil er nach seinem Zarathustra-Erlebnis die ganze Welt im Lichte einer ekstatischen Lebensbejahung sehen will und sehen kann und darum ein so feines Gespür entwickelt für die heimlichen und unheimlichen Lebensaffirmationen im Werk Schopenhauers.

Das Zarathustra-Erlebnis hier in Sils Maria war Nietzsches großer Augenblick der Beseligung und des Jasagens. Seine Evidenz eines Augenblicks, die ihn mit geradezu mystischer Kraft überwältigte. Hören wir, was er selbst davon zu berichten hat. Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit . . . Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird . . . eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, . . .

Jene Glückstiefe, worin der Schmerz und das Düstere enthalten sind, diese Lebens-und Welteinstellung nennt Nietzsche "Dionysischer Pessimismus". Nietzsche hat sein Prinzip Dionysos bekanntlich in seinem ersten Buch "Die Geburt der Tragödie" entdeckt und vorgeführt und er hat seinem Dionysos lebenslage Treue bewahrt.

Das Buch gibt sich zunächst als eine Untersuchung über die Grundlagen der griechischen Kultur, näherhin über zwei Aspekte des griechisch Stilwillens: das Dionysische und das Apollinische. Apoll ist der Gott der Form, der Klarheit, des festen Umrisses, des hellen Traumes und vor allem: der Individualität. Die Plastik, die Architektur, die homerische Götterwelt, der Geist des Epos - das ist apollinisch. Dionysos aber ist der wilde Gott der Auflösung, des sinnlichen Chaos, der Bewegung, des Rausches, der Entgrenzung, der Individualität und des Versinkens im kollektiven Taumel. Beides aber - das Dionysische und das Apollinische - sind Antworten auf die elementaren Mächte des Lebens. Diese werden von Nietzsche als etwas Ungeheures, Grausames charakterisiert, als ein Universum aus Gewalt, Tod und Leiden. Das Leben, wenn es zum Bewußtsein erwacht, blickt zuerst in einen Abgrund. Das Entsetzen steht am Anfang der Karriere des Geistes. Ob diese Sicht antik-griechisch ist, darüber läßt sich streiten, schopenhauerisch ist sie auf jeden Fall. Deshalb zitiert Nietzsche auch an der entscheidender Stelle, wo es sich um den Übergang von der apollinischen Selbstbefestigung zur dionysischen Entgrenzung handelt, jene grandiosen Sätze, in denen Schopenhauer das Verhältntnis zwischen dem Prinzip der Individuation und dem Weltwillen beschreibt. Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis.

Auch sonst ist Schopenhauers Philosophie in dieser Konzeption der dionysischen und apollinischen Lebensmächte gegenwärtig. Dionysos ist die Welt des 'Willens', Apoll ist für die 'Vorstellung' zuständig. Nietzsche nimmt eine ganze Reihe von Identifikationen vor. Aus dem Kunstprinzip Dionysos (worin sich auch die Kunst Wagners spiegelt) wird ein Weltprinzip und daraus schließlich ein Prinzip seiner innersten Erfahrung, wie Nietzsche sagt. Schopenhauer strebt mit seinem 'bessren Bewußtsein' und seiner Ekstase der Verneinung ins Überindividuelle, Nietzsche dagegen will mit seinem Prinzip Dionysos Fühlung halten zu den vitalen, gewissermaßen unterindividuellen Lebensmächten, diesem Gemisch aus Glück, Qual und Entsetzen. Sein Ideal ist ein Glück, das in den Abgrund geblickt hat; ein Glück, das stark genug ist, um einverstanden zu sein mit Schmerz, Verzweiflung, Grausamkeit.

Eine Generation vor Sigmund Freud diagnostiziert Nietzsche die Krankheit der Kultur: ihr Fundament sei die Angst, die sich an vermeintliche Sicherheiten klammert. Über lange Zeit hin war das Christentum eine solche Sicherheit. Das Christentum hat inzwischen, das sieht auch Nietzsche, seine Rückversicherungskraft eingebüßt; deshalb hat man sich nun daran gemacht, Ersatzgötter zu finden: im Nationalismus und Sozialismus, im bienenfließigen Arbeitsleben, im Glauben an den technischen Fortschritt. Das alles bewegt sich für Nietzsche im Milieu eines faden Optimismus, der darauf angelegt ist, das Leben vor den großen Problemen sicherzustellen: Tod, Schmerz, Gewalt, Sinnlosigkeit werden verdrängt. Die Kultur errichtet einen Sicherheitskordon. Eine Kultur, die Nietzsche mit der zweiflerischen Frage belästigt: dieses Leben, das sich hier schützen will, - lebt es eigentlich noch ? Im Zarathustra läßt Nietzsche den letzten Menschen, also uns, auftreten.

Seht; Ich zeige euch den letzten Menschen. / 'Was ist Liebe ? Was ist Schöpfung ? Was ist Sehnsucht ? Was ist Stern ?' - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. / 'Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln. / Sie haben die Gegend verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. / Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. / Kein Hirt und eine Heerde ! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus. / Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. / 'Wir haben das Glück erfunden' - sagen die letzten Menschen und blinzeln.

Am bescheidenen Glück, an diesem Genügen hebt Nietzsche jenen Kleinmut hervor, der vorschnell nach Entlastungen sucht.

Die Anthropologen belehren uns heute darüber, daß der Mensch ein Mängelwesen sei, das die Kultur als Immunschutz gegen die Grausamkeit des Überlebenskampfes nötig habe. Nietzsche indes beharrt darauf, daß diese Kultur zwar das Leben bewahrt, zugleich aber auch um das wahre Leben betrügt. Entlastung geht auf Kosten der Intensität. Seit Hegel ist für die Preisgabe der Intensität und für Entfernung aus dem eigenen lebendigen Zentrum der Begriff 'Entfremdung' aufgekommen. Feuerbach in seiner Religionskritik und dann Marx in seiner Gesellschaftskritik haben unter dem Titel der 'Entfremdung' analysiert, wie die Menschen Götter und gesellschaftliche Mächte erfanden und sich dann von ihnen beschränken ließen. Nietzsches Philosophie steht durchaus in der Tradition dieser Entfremdungskritik. Wie Feuerbach und Marx will er die an den Himmel verschleuderten Reichtümer zurückholen. In einem seiner nachgelassenen Fragmente schreibt er: All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen.- als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht - : oh über seine königliche Freigebigkeit, mit der er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen ! Das war bisher seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte.

Im Zarathustra findet Nietzsche plastische Bilder für diesen Vorgang der Zurückforderung:

man ist zuerst Kamel, beladen mit lauter Du sollst. Das Kamel verwandelt sich in einen Löwen. Der Löwe kämpft gegen diese ganze Welt des Du sollst. Er kämpft, weil er sein Ich will entdeckt hat. Doch weil er kämpft, bleibt er negativ ans Du sollst gefesselt. Sein Seinkönnen verbraucht sich im Zwang, rebellieren zu müssen. Im Ich will ist noch allzuviel Trotz und Selbstversteifung, hier gibt es noch nicht die wahrhafte Gelöstheit des schöpferischen Wollens, noch ist man nicht bei sich selbst, bei seinem ganzen Lebensreichtum angekommen. Das geschieht erst, wenn man zum Kinde wird, auf neuer Stufe die erste Spontaneität des Lebendigen wieder erreicht: Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen. Ja, zum Spiel des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-Sagens.

Auf die Heiligung des Diesseits kommt es an. Das unterscheidet Nietzsches Atheismus vom modernen Nihilismus. Der moderne Nihilismus, so wie er ihn sieht, ist nur noch Ernüchterung. Man hatte dem Leben einen transzendenten Sinn und Wert beigelegt. Wenn dieser Jenseitssinn schwindet, bleibt das Leben zurück: sinn - los, man hat ein Jenseits geheiligt und das Diesseits profaniert. Verschwindet das heilige Jenseits, bleibt das profanierte Diesseits zurück. Deshalb hat der Nihilismus eigentlich schon mit Platon und dem Christentum, dem Platonismus fürs Volk, begonnen, als nämlich im Zeichen einer höheren Idee das immanente Leben entwertet wurde. Damals begann das Zerwürfnis mit dem Leben. Und deshalb verliert am Ende dieser langen Geschichte der platonisch- christlichen Entwertung des Lebens der moderne Nihilismus sein überschwengliches Jenseits, ohne das Diesseits als Wert zurückzugewinnen. Nietzsche Zarathustra aber will in der Kunst unterweisen, wie man gewinnt, wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligung, die ganzen Himmelfahrten des Gefühls, dieser Hunger nach Intensität, der vormals ins Jenseits ausgriff, sollen sich nun ans unmittelbare, diesseitige Leben halten. Nietzsche will die Kräfte des Transzendierens für die Immanenz bewahren. Überschreiten und doch der Erde treu bleiben - das ist es, was Nietzsche seinem Übermenschen aufträgt. Der Übermensch , wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion: er hat sie nicht verloren, er hat sie in sich zurückgenommen. Der gewöhnliche Nihilist hingegen, der letzte Mensch, hat sie nur verloren und das profanierte Leben zurückbehalten. Nietzsche will die heiligenden Kräfte fürs Diesseits retten - gegen die nihilistische Tendenz ihrer Profanierung.

Nietzsche hat viel Aufhebens gemacht von der Lehre der ewigen Wiederkehr, die er durch seinen Zarathustra verkündigen läßt. Indes ist die Idee der in sich kreisenden, ihren begrenzten 'Inhalt' immer wieder durchspielenden Zeit uralt. In indischen Mythen, bei den Vorsokratikern, in häretischen Unterströmungen des Abendlandes taucht sie auf. Im Bilde der ewigen Wiederkehr drückt sich in der Regel eine resignative Weltmüdigkeit aus. Der kreisende Zeitumtrieb entleert das Geschehen bis zur Sinnlosigkeit. Ganz anders bei Nietzsche. Bei ihm gilt: daß jeder Augenblick wiederkehrt, setzt das Hier und Jetzt in die Würde des Ewigen ein. Die Wiederkehr entleert nicht, im Gegenteil: sie verdichtet. Nietzsche, der das 'Du sollst' von sich werfen möchte, hier lehrt er doch ein neues 'Du sollst': Du sollst den Augenblick so leben, daß er dir ohne Grauen wiederkehren kann. Man soll jeden Augenblick so leben, daß man zu ihm rufen kann: Da capo! Der Gedanke der ewigen Wiederkehr hat bei Nietzsche weniger eine kosmisch-metaphysische Bedeutung, er ist noch nicht einmal im eigentlichen Sinne ein Gedanke der Erkenntnis, der Weltabbildung also, sondern ein Gedanke der Selbstbildung: er ist operativ gemeint, er gehört ins Register der Autosuggestion. Das ist Nietzsches Stil: die weitläufigsten, großräumigsten Gedanken haben eine existentiell-pragmatische Zuspitzung; ja, sie werden nur dieser Zuspitzung wegen gedacht. Nietzsche ist ein existentieller Pragmatiker der Metaphysik. Bilderwütig beschwört er die Beseligungen im Jetzt, die ihm die Perspektive der ewigen Wiederkehr eröffnet. Um der Vorstellung des kreisenden Zeitumtriebs das Lastend-Lähmende zu nehmen, versucht Nietzsche sie mit dem Bilde des großen Weltspiels zusammenzudenken. Auch das Spiel basiert bekanntlich auf Wiederholungen, aber wir erleben sie hier lustvoll. Für Nietzsche wird mit dem Tode Gottes das Wagnis und der Spielcharakter des menschlichen Daseins offenbar. Übermensch ist, wer die Kraft und die Leichtigkeit hat, bis zum Weltspiel durchzudringen. Nietzsches Transzendieren geht in diese Richtung: zum Spiel als Grund des Seins. Nietzsches Zarathustra tanzt, wenn er diesen Grund erreicht hat, er tanzt wie der indische Weltengott Schiva.

Wie wir wissen, hat Nietzsches Zimmerwirtin in Turin ihren Mieter nach seinem Zusammenbruch auf der Straße, als er zwei Droschkengäule umarmte und als man ihn wieder aufs Zimmer geschafft hatte, angetroffen, wie er nackt im Zimmer tanzte.

Nietzsche und Schopenhauer sind Beispiele dafür, wie große Philosophie aus inspirierenden Augenblicken erwächst und - mit nur wenig Übertreibung gesagt - nur noch eine Ausfältung dessen ist, was in diesen Augenblicken als Erlebnis und Erfahrung gelegen hat.

An diesem Paar zeigen sich - zweitens - zwei Grundmöglichkeiten der Ekstase. Die Ekstase des 'Nein' zur Welt, wie sie ist. Und eine Ekstase des Ja. Schopenhauer will aus der Welt transzendieren, Nietzsche in die Welt transzendieren. Beide aber bleiben natürlich 'in der Welt'. Und so bleiben sie sich nahe, weil sich zuletzt doch alles abspielt in einer Dimension, die man die "ästhetische" nennt. Eine Umwandlung, die sich zwar ohne Gott vollzieht, aber wohl genauso fundamental ist, wie als wäre dieser Gott, der alles neu macht, im Spiel. Zwei atheistische Philosophien, in denen Gott verschwunden, aber ein Gotteseffekt geblieben ist: der ästhetische. Eine gewandelte Wahrnehmung - als ob einem ein Gott neue Augen eingesetzt hätte.

Rüdiger Safranski,
Sils-Maria, den 25.9.1998


Diesen Text habe ich auf einer Seite im Netz gefunden, kopiert, korrigiert und in mein geliebtes Schwarz auf Weiss gesetzt. Leider fehlen mir noch immer die Fussnoten zu den Zitaten. Falls Jemand Informationen dazu besitzt: einfach melden.
Dominique Kaspar, August 2003